„Atlantis des Nordens“ wird es genannt, oder „Venedig der Ostsee“. Über Jahrhunderte inspirierte die geheimnisvolle Stadt diverse Künstler und beschäftigte die Wissenschaft. Doch wo genau lag jenes Vineta, bevor es im Meer versank? Eine Spurensuche an der Küste.

 

Einst war Vine­ta eine schillernde Metro­pole, die größte Stadt Europas sog­ar, größer noch als Kon­stan­tinopel. Ihre Bewohn­er trieben Han­del mit der ganzen Welt und ihre Schiffe bracht­en die schön­sten und kost­barsten Waren von allen Kon­ti­nen­ten. Bald waren die Leute so reich, dass sie ihre Haustiere mit Schmuck behängten, so ver­schwen­derisch, dass sie ihren Kindern mit Sem­meln den Hin­tern wis­cht­en – und so arro­gant, dass sie sämtliche War­nun­gen in den Wind schlugen.

Dreimal erschien die Stadt am Hor­i­zont als Spiegel­bild – mit allen Stadt­toren, Tür­men und Häusern. Und da es auch in Sagen immer Unheil bedeutet, wenn man dop­pelt sieht, warn­ten die Alten die anderen: Man solle die Stadt ver­lassen, der Unter­gang sei nah. Doch die hochmüti­gen Bewohn­er hörten genau­so wenig auf ihre Senioren wie auf jene Meer­jungfrau, die eines Tages vor der Küste auf­tauchte und mit hoher, schau­riger Stimme rief: „Vine­ta, Vine­ta, du rieke Stadt, Vine­ta soll unner­gahn, Wiel deß se het väl Bös­es dahn!“

Sicht des Künstlers Armin Münch auf Vineta und die Meerjungfrau

Sicht des Kün­stlers Armin Münch auf Vine­ta @ Armin Münch

Das war qua­si eine Unwet­ter­war­nung aller­höch­ster Güte, nur dass nicht die Wet­ter­lage dafür herange­zo­gen wurde, son­dern der moralis­che Ver­fall Vine­tas. Die Stadt, so hat­te die Nixe prophezeit, würde also unterge­hen, weil sie viel Bös­es getan hat. Und tat­säch­lich: In ein­er stür­mis­chen Novem­ber­nacht riss eine riesige Sturm­flut die Stadt in die Tiefe. Vine­ta war passé.

Griechen und Barbaren

Meer­jungfrauen, darin sind sich Wis­senschaftler einig, hat es nie gegeben. Vine­ta vielle­icht aber doch. So berichtet etwa Ibrahim ibn Jaqub, ein Gesandter des Kalifen von Cór­do­ba, der im 10. Jahrhun­dert fundierte Reise­berichte über Mainz, Worms, Prag und Krakau ver­fasste, im Jahr 965 von ein­er reichen Stadt am Welt­meer mit zwölf Toren, einem Hafen und ein­er gewalti­gen Stre­it­macht. Uba­ba nan­nte er sie.

Etwa 100 Jahre später schreibt der Domherr und Priester Adam von Bre­men in sein­er „Ham­bur­gis­chen Kirchengeschichte“ über die „prächtige Stadt Jumne“: „In ihr wohnen Slawen und andere Stämme, Griechen und Bar­baren. Die Stadt ist ange­füllt mit Waren aller Völk­er des Nor­dens, nichts Begehrenswertes oder Seltenes fehlt.“ Über die Bewohn­er heißt es: „(…) noch sind alle in hei­d­nis­chem Irrglauben befan­gen: abge­se­hen davon wird man allerd­ings kaum ein Volk find­en kön­nen, das in Leben­sart und Gast­frei­heit ehren­hafter und fre­undlich­er ist.“

Von Hamburg nach Vineta in sieben Tagen

Präzise beschreibt der Kirchenchro­nist, der auch als erster deutsch­er Geograf gilt, die Lage: An der Mün­dung der Oder läge die Stadt, „von drei Meeren umspült“. Dem­min, „das an der Mün­dung der Peene liegt, wo auch die Rügen­er wohnen“ sei von hier „in kurz­er Rud­er­fahrt“ zu erre­ichen. „Die Reis­eroute ist so beschaf­fen, dass man von Ham­burg und der Elbe aus über Land in sieben Tagen die Stadt Jumne erre­ichen kann.“

Adam von Bre­men hat sich allerd­ings nie selb­st auf den Weg gemacht. Alles, was er von Vine­ta weiß, hat ihm der Dänenkönig Sven Estrids­son dik­tiert. Als Hel­mold von Bosau gut 100 Jahre später seine Slawenchronik schreibt, übern­immt er fast wörtlich die Pas­sagen über Jumne, kann aber den Namen der Stadt nicht so recht entz­if­fern. Also schreibt er: Vineta.

Die Stadt auf dem Meeres­grund inspiri­erte zahlre­iche Kün­stler, so etwa Armin Münch zu dieser Grafik @ Armin Münch

Als die Stadt endlich ihren schö­nen Namen bekam, gab es sie aber gar nicht mehr. Denn nach 1170 wird sie nir­gends mehr erwäh­nt: in kein­er Chronik, keinem Reise­bericht, auf kein­er Karte. Wie vom Erd­bo­den, oder bess­er: vom Meer verschluckt.

Vineta en vogue

Jahre später taucht Vine­ta in Sagen und Leg­en­den wieder auf – und in diesen bekan­ntlich sehr schnell wieder unter. Was bleibt ist ein mys­ter­iös­es Rät­sel und: ein Ziel für Ent­deck­er. Im 16. Jahrhun­dert wird Vine­ta en vogue. Und seit­dem fra­gen sich viele: Wo genau lag nur dieses Vineta?

Hein­rich Heine sollte man bess­er nicht nach dem Weg fra­gen. Der veröf­fentlichte sein Gedicht „Seege­spenst“ über die Stadt auf dem Meeres­grund im Band „Nord­see“. Wenn auch nicht allzu viel gesichert gesagt wer­den kann, so doch dies: In der Nord­see lag Vine­ta nicht, son­dern in der Ost­see, der Sage nach auf der Insel Use­dom vor Koserow. Eine Karte aus dem Jahr 1618 zeich­net sie dort sog­ar ein.

Koserow ist ein kleines See­bad an der schmal­sten Stelle der Insel und bekan­nt für die Salzhüt­ten, die hier den Fis­ch­ern seit Anfang des 19. Jahrhun­derts während der Her­ingszeit als Lager dien­ten und heute eine Touris­te­nat­trak­tion sind. Eine weit­ere entste­ht ger­ade nur wenige Meter weit­er: Für 7,4 Mil­lio­nen leis­tet sich das kleine See­bad eine neue See­brücke. Ob von ihrem Ende aus Vine­ta sehen kann, wer nur tief genug ins Meer guckt? Eher nicht. Der „Vinetablick“ mit Sicht auf die Stelle, wo die Stadt der Sage nach ver­schwand, ist etwas weit­er südlich die Küste runter und den Streck­els­berg rauf.

Die See ist glatt wie ein Spiegel, nichts ploppt hier auf

Unter hohen Bäu­men ste­ht hier eine Bank, auf der man warten kann, bis sich die ver­sunkene Stadt wieder aus den Fluten erhebt. Doch die See ist glatt wie ein Spiegel, nichts ploppt hier auf. Vielle­icht muss man nur lange genug auf die Stelle schauen, denkt man sich. So wie bei diesen Mag­ic-Eye-Büch­ern aus den 90ern, in denen sich aus bun­ten Mustern plöt­zlich Fig­uren in 3‑D erheben. Vielle­icht steigt auch dieses rät­sel­hafte Vine­ta dann aus den flachen Wellen heraus?

Blick vom Streckelsberg bei Koserow auf die Ostsee, der Vineta-Blick

Da hin­ten kön­nte Vine­ta ver­sunken sein — glaubt man in Koserow und hat die Aus­sicht vom Streck­els­berg auf die See hoff­nungsvoll Vine­ta-Blick getauft @ jes/zweiküsten

 

Aber vielle­icht schaut man lieber den Tat­sachen ins Gesicht. Vor Koserow, da waren sich Vine­ta-Forsch­er früh einig, lag die Stadt nicht. Und auch nicht weit­er nördlich, nahe des Ruden: Land­karten von 1633 und 1700 zeich­nen das ver­sunkene „Wine­ta“ nahe der kleinen Insel ein, die zwei Kilo­me­ter vom Fes­t­land in der Ost­see liegt. In der Aller­heili­gen­flut von 1304 ist hier tat­säch­lich so einiges ver­sunken, aber Vine­ta, so mussten die Forsch­er ein­se­hen, wohl nicht. Auch andere Stan­dorte wie etwa die Stadt Use­dom oder Men­zlin bei Anklam schieden schnell aus.

Einig waren sich die Forsch­er hinge­gen lange bei einem Ort auf der Nach­barin­sel von Use­dom: Wollin (pol­nisch: Wolin). Hier fand man Mitte des 19. Jahrhun­derts einige Münzen ara­bis­chen und anderen Ursprungs – Reste der einst so reichen Stadt? Selb­st Rudolf Vir­chow, berühmter Arzt und nicht ganz so berühmter Archäologe, war sich sich­er: Vine­ta ist Wollin! Der Fre­und Hein­rich Schlie­manns unter­stützte mehrere Grabun­gen und bud­delte 1872 auch selb­st am Galgenberg.

Lag Vineta im heutigen Polen?

Tat­säch­lich soll­ten bald Zehn­tausende Einzel­funde bele­gen, dass sich vom 10. bis 12. Jahrhun­dert bei Wollin ein bedeu­ten­der Han­del­splatz befand. Nach dem Zweit­en Weltkrieg fand Wladis­law Fil­ipowiak, Direk­tor des National­mu­se­ums in Stet­tin, neben vie­len weit­eren Fund­stück­en sog­ar die Reste ein­er Hafe­nan­lage aus dem 8. Jahrhundert.

Viele der Funde sind heute im Muse­um von Wollin zu sehen. Aber sind es tat­säch­lich die Reste von Vine­ta, das der Sage nach im Meer ver­sank und nach Aus­sagen zeit­genös­sis­ch­er Chro­nis­ten an der Mün­dung der Oder lag? Nun, wed­er die See noch die Oder sind weit. Den­noch bracht­en im Jahr 1999 zwei Berlin­er einen ganz anderen Stan­dort ins Spiel.

Fähre namens Vineta auf Usedom

Vine­ta heißt die Fähre, die zwis­chen den Kaiser­bädern und Swinemünde verkehrt. Der zarte Hin­weis auf Unterge­gan­ge­nes tut dem Geschäft aber keinen Abbruch @ jes/zweiküsten

 

Denn der Oder­arm bei Wollin, so die These von Klaus Gold­mann und Gün­ter Wer­musch, sei der falsche. Der richtige existiere zwar nicht mehr, soll aber vor 1000 Jahren an Barth ent­lang, direkt in den Saaler Bod­den zur Ost­see hin abge­flossen sein. Satel­liten­bilder vom Oder-Hochwass­er im Som­mer 1997 schienen die gewagte These zu stützen, wonach die Kle­in­stadt Barth vor dem Zingst das wahre Vine­ta wäre.

Mit dieser neuen Veror­tung wür­den auch weit­ere Behaup­tun­gen aus den his­torischen Quellen plöt­zlich logisch: Die „kurze Rud­er­fahrt nach Dem­min“ war nun möglich; zudem lebten die Ranen, die Bewohn­er des Fürsten­tums Rügen, nicht nur auf Rügen, son­dern auch bei Dem­min. Doch wie kon­nte Vine­ta bei Barth untergehen?

Versunken in Schlamm und Schlick

Gold­mann und Wer­busch glauben, dass die slaw­is­chen und ger­man­is­chen Küsten­be­wohn­er schon geschickt Dämme und Schleusen baut­en, Flüsse staut­en und Fluten reg­ulierten, um auf diese Weise frucht­bares Land zu gewin­nen. Für den Unter­gang sorgten dann keine wüten­den Meeres­göt­ter, son­dern van­dalierende Dänen, welche die Dämme zer­störten und somit das Land fluteten.

Vine­ta, das im Mythos gern als Stadt auf dem Grund glasklar­er Meere gese­hen wird, ver­sank also in Schlamm und Schlick? Damit desil­lu­sion­ierten Gold­mann und Wer­busch nicht nur sämtliche Vine­ta-Roman­tik­er, son­dern frus­tri­erten auch so manch­es Frem­den­verkehrsamt. Auf Use­dom ist Vine­ta näm­lich so gegen­wär­tig, als wäre es nie unterge­gan­gen. So führt in Zin­nowitz eine Vinetabrücke auf das Meer, lock­en die Vine­ta-Fest­spiele jedes Jahr 20.000 Leute an. Ein Schiff namens Vine­ta tuck­ert vor der Küste ent­lang. Hotels, Cafés, ja ganze Ferien­an­la­gen heißen wie die ver­sunkene Stadt.

Vinetabrücke in Zinnowitz

Auch von hier ist die ver­sunkene Stadt nicht zu spot­ten: Vinetabrücke in Zin­nowitz @ jes/zweiküsten

In Barth hinge­gen hörte man die Glock­en läuten, bess­er: die Kassen klin­geln. Kaum war die Barth-These raus, ließ sich der Bürg­er­meis­ter den Namen Vine­ta-Stadt paten­tieren und machte das Heimat­mu­se­um zum „Vine­ta-Muse­um“. Dass die These der Berlin­er auf ziem­lich wack­e­li­gen Füßen ste­ht – so mag die Oder vor 10.000 Jahren vielle­icht an Barth vor­bei geflossen sein, aber nicht vor 1000, gab der Wis­senschaftler Fred Ruch­höft zu bedenken –, tut der Vine­ta-Euphorie in Barth keinen Abbruch, lässt aber so manchen Vine­ta­suchen­den rat­los zurück.

Wo nur soll er sich postieren, wenn die Stadt wieder aus den Fluten auf­taucht, um sich von einem Son­ntagskind erlösen zu lassen? Alle 100 Jahre zu Ostern, so will es die Sage, tut sie das und hofft, dass der Knirps dann auch etwas Geld dabei hat. Denn nur wenn er den Händlern eine Ware abkauft, darf die Stadt über Wass­er bleiben. Wenn nicht, sinkt sie zurück ins Meer.

jes.

 

» Weit­er­lesen: Mar­ti­na Krüger, die Sprecherin der Vine­ta-Fest­spiele in Zin­nowitz, hat sich in ihrem Buch „Vine­ta Trug­bilder“ mit dem Mythos auseinan­derge­set­zt. Hier geht es zum Inter­view mit der Autorin.

 

Buchtipp in eigen­er Sache:

Die Suche nach Vine­ta auf Use­dom und Wollin ist auch eine der ins­ge­samt 52 kleinen und großen Eska­paden in Meck­len­burg-Vor­pom­mern an der Ost­see: Ab nach draußen! (DuMont Eska­paden), unserem Reise­führer für die Küste. Wenn Ihr das Buch hier bei Ama­zon bestellen wollt, unter­stützt Ihr nicht nur die Autorin, son­dern auch dieses Por­tal mit ein paar Cents, am Kauf­preis ändert sich aber nichts.

 

 

Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift DÜNENZEIT Ost­see, Aus­gabe Win­ter 2020. Die Zeitschrift mit Reporta­gen und Aus­flugstipps für die Küsten von Meck­len­burg-Vor­pom­mern und Schleswig-Hol­stein gibt es zum Preis von 6,50 Euro am Kiosk oder hier online.

 

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