Alfred Kerr, der berühmte Theaterkritiker der Weimarer Republik, hatte einen ausgestopften Seehund in seinem Berliner Salon. Ein halbes Jahrhundert später inspirierte dessen Geschichte Kerrs Tochter Judith zu dem wunderbaren Kinderbuch Ein Seehund für Herrn Albert.
Alfred Kerr war oft am Meer. Vielleicht so oft wie im Theater, das er seinerzeit so unverwechselbar sezierte. In den Aufzeichnungen des berühmtesten Theaterkritikers der Weimarer Republik schwappt die See zumindest sehr oft an sein Gemüt. So unternahm er beispielsweise einmal eine Radtour von Rostock an die Küste, fand in Graal-Müritz das „schönste Ostseefleckchen“ und befand: „Hier will ich bleiben!“ Auf Sylt konstatierte er: „Kein Mensch, aber zwei Meere“. Sowie: „Nirgends wird einem der Hauch des Alls so aufs Butterbrot geschmiert“. Und Quallen – diese „wunderbaren Schalen von Kristall mit veilchenblauem Inhalt“ – fand er unfassbar faszinierend. Doch nicht genug: In seiner Wohnung in Berlin stand ein ausgestopfter Seehund.
Wie der da hingekommen war? Tochter Judith konnte die Geschichte gar nicht oft genug von ihrem Vater hören. Und der erzählte gern: Wie er das verwaiste Robbenbaby in der Normandie vor dem Erschießen rettete; wie er es in einer mit Algen ausgelegten Kiste nach Berlin transportierte, um es in seiner Badewanne einzuquartieren; und wie er sich und den Seehund nach seiner Ankunft in einem Taxi in ein Restaurant chauffieren ließ, um das Tierbaby unter den Augen der erstaunten Gäste mit Milch zu füttern. Die Zwanzigerjahre, in denen die Berliner nicht mehr viel wundern sollte, was ihnen im Nachtleben begegnete, waren da noch nicht angebrochen.
Parallelen zu Knut
Es ist wahrlich eine rührende Geschichte, die lange vor Eisbärbaby Knut schon vieles erzählt, was sich zwischen diesem und seinem Pfleger 100 Jahre nach Kerr und dem kleinen Heuler wiederholen sollte. Da sind die Knopfaugen im unfassbar weißen Kuschelfell. Da ist der Mann, der zur Mama wird. Und ja, auch ein tragisches Ende gibt es. Denn wie Knut landete auch der kleine Seehund beim Tierpräparator, ohne wirklich alt geworden zu sein: Der Zoo konnte Kerrs Seehund damals nicht aufnehmen und der Feuilletonist das Tier leider nicht füttern.
Der ausgestopfte Seehund fiel später den Nazis in die Hände – mit allen anderen Habseligkeiten der Kerrs, die 1933 aus Deutschland flohen. Seine Geschichte jedoch wurde von Kerrs Tochter (Alfred Kerr starb 1948) bewahrt. Und jetzt, Judith Kerr ist inzwischen über 90, von ihr aufgeschrieben und illustriert. „(…) Herr Albert betrachtete den kleinen Seehund, der sich zufrieden die Sonne auf sein flauschiges weißes Fell schienen ließ. Und Herr Albert dachte, dass er noch nie zuvor in seinem Leben etwas so Liebenswertes gesehen hatte“, heißt es da. Ja, aus Alfred wurde Albert. Aus dem Theatermann ein pensionierter Kioskbesitzer. Aus Berlin ein Ort irgendwo in England. Und aus dem traurigen Ende – ein Happy End.
Ein Seehund für Herrn Albert ist Judith Kerrs erstes Kinderbuch nach vier Jahrzehnten. Fast scheint es, als hätte die alte Dame in ihrem hohen Alter noch etwas zu erledigen gehabt. Als müsste sie den Seehund, dessen Rettung dem Vater einst nicht gelang, am Ende doch noch vor seinem Schicksal bewahren – und zwar mit den Mitteln, die der Kritiker und Schriftsteller ihr einst lehrte, denen der Literatur. So ist das Buch nicht nur eine wunderbare Liebesgeschichte zwischen Mensch und Tier, sondern auch eine zwischen Vater und Tochter, über den Tod hinaus. Illustriert mit leisem Bleistift und viel Zärtlichkeit.
jes.
Ein Seehund für Herrn Albert von Judith Kerr, aus dem Englischen von Sibylle Schmidt, erschien bei Fischer Sauerländer. Ab 6 Jahren. 12 Euro.