Wer in diesen Wochen am Strand spazieren geht, wundert sich vielleicht über eine Muschel, die so ganz anders aussieht als die anderen: Sie ist auffallend dick, zwei bis sechs Zentimeter lang und hellbraun bis olivgrün. Woher kommt diese Muschel und was bedeutet ihr Auftreten am Ostseestrand? Eine Spurensuche …
Es war im Sommer 2013 bei Brunsbüttel, als sie das erste Mal auffiel. Bei einer Analyse der Artenvielfalt im Nord-Ostsee-Kanal hielt eine Mitarbeiterin des Landesamts für Natur und Umwelt plötzlich eine Muschel in der Hand, die sie nie zuvor gesehen hatte. Der hohe Wirbel an der Spitze sprach für eine Trogmuschel. Doch die heimischen Arten hatten weder so dicke Schalen noch so lange Schließzähne. Auch der Fundort war ungewöhnlich – Trogmuscheln leben sonst im Meer.
Ein Anruf bei Muschelexperte Vollrath Wiese sollte Klarheit schaffen. Der Biologe ist nicht nur Vorsitzender der Deutschen Malakozoologischen Gesellschaft, sondern besitzt auch Deutschlands größte Schnecken- und Muschelausstellung. „Zum Glück kannte ich die Muschel schon“, erinnert sich Wiese an die Anfrage, „nur wenige Wochen zuvor war sie mir nämlich in meiner Sammlung aufgefallen und ich hatte sie genauer betrachtet.“ Bei den geschätzten zehn Millionen Schnecken und Muscheln, die Wiese in seinem Haus der Natur im Klosterdorf Cismar bei Grömitz hortet, muss man da wohl von Fügung sprechen. Rund 22.000 verschiedenen Arten zeigt Wiese dort auf 500 Quadratmetern. Gut 200.000 Etiketten haben er und Ehefrau Gyde schon beschriftet.
Einwanderin aus Mexiko
„Rangia cuneata“ steht auf dem der nun identifizierten Art. Und dass sie aus Mexiko stammt. Offenbar wird sie dort auch gern verspeist, denn eins der Exemplare im Museum in Cismar hat ein Weltenbummler 1990 aus einem Fischgeschäft in Mexiko-City mitgebracht. Heute wird die Rangia in der Nähe von Veracruz auch in Aquakultur gezüchtet. Das dicke Gehäuse wiederum findet als Schottermaterial beim Straßenbau Verwendung. Doch wie hat es die Muschel von Mittelamerika nach Europa geschafft, einmal quer über den Atlantik?
Ganz einfach: mit dem Schiff. Denn Fracht- und Kreuzfahrtschiffe führen zur Stabilisierung im Kielraum Wasser mit sich, das sie einfach aus dem Meer pumpen und später wieder ablassen. Kleinste Lebewesen – wie die Larve der Rangia cuneata – können in diesem „Ballastwasser“ unbemerkt als blinde Passagiere mitreisen. Sind die Schiffe nur wenige Tage unterwegs, überleben die Larven. Viele Tiere wurden auf diese Weise schon eingeschleppt. Allein in der Ostsee wird pro Jahr eine neue Art entdeckt.
Der Rangia dürfte um die Jahrtausendwende die Überfahrt gelungen sein. Denn 2004 wurde sie das erste Mal in Belgien gesichtet und auch wenn diese Muschelart recht schnell wächst – drei, vier Jahre brauchen die Tiere, um sich aus der Larve in einen schmackhaften Happen für Seevögel zu verwandeln. Die Schalen werfen Möwe & Co bekanntlich gern achtlos auf den Strand. 2015 wurde sie so bei Lübeck gefunden. Bald tauchte sie in Emden, auf Rügen und Usedom auf. Auch höher im Norden, in Schweden und den baltischen Staaten, liegt sie heute massenhaft am Strand.
Die Rangia Cuneata liebt Süßes
Nur vor der eigenen Haustür in Grömitz hat Wiese sie bisher noch nicht entdeckt. Der Salzgehalt der Ostsee sei wohl zu hoch, vermutet er. Die Muschel nämlich bevorzugt fast süße Gewässer wie Gräben und Nebenflüsse – „Brackwasser-Trogmuschel“, so daher ihr deutscher Name. „Vermutlich laicht sie auch eher im benachbarten Süßgewässer und wagt sich als erwachsene Muschel dann aufs Meer hinaus“, vermutet Wiese. Doch genau weiß man das nicht.
Unklar ist auch, was ihr massenhaftes Auftreten an den deutschen Küsten für das hiesige Ökosystem bedeutet – und leider machen da imigrierte Muscheln schon mal Probleme. So wie die Quagga-Dreikantmuschel (Dreissena rostriformis bugensis) aus dem Schwarzen Meer, die sich seit 2005 in deutschen Flüssen und Seen rasant vermehrt und anderen Muscheln sowie Fischen das Plankton wegfuttert. Mancherorts hat die kleine Muschel mit den Zebrastreifen den Bestand der einheimischen Weichtiere um über 90 Prozent reduziert. Der Rothsee in Mittelfranken wird daher jeden Winter um fünf Meter abgesenkt – damit die Larven des Eindringlings erfrieren.
„Für das ohnehin geschwächte Ökosystem Ostsee können Einwanderer wie diese also durchaus gefährlich sein,“ warnt Finn Viehberg, Leiter des WWF-Büros in Stralsund. Erst letzten Herbst verständigte sich die Helsinki Kommission der Anrainerstaaten der Ostsee in ihrem Baltic Sea Action Plan daher auf verschiedene Maßnahmen, um die Verbreitung invasiver Arten deutlich zu reduzieren – etwa auf den Bau von Früh-Warn-Systemen in Häfen sowie einem kontrollierten Umgang mit Ballastwasser in Schifftanks.
Neues Futter für die Möwen
Welchen Effekt die Rangia cuneata auf das hiesige Ökosystem hat, kann Viehberg indes nur mutmaßen. „Da sich Muscheln durch das Filtrieren von Plankton ernähren und dieses in der Ostsee sehr stark wächst, könnte das Wasser durch diesen zusätzlichen Filter sehr viel klarer werden. Ob die höhere Sichttiefe die Menge von kleinen algenfressenden Tieren signifikant reduziert, und damit auch das Futterangebot einiger Fische wie etwa Hering, ist meines Wissens nicht untersucht worden.“
Überhaupt ist die Wirkung komplex. Denn natürlich ist die Muschel auch eine neue Nahrungsquelle für Seevögel. So beobachtete man etwa am Bodensee, dass sich seit dem Auftreten der Zebramuschel (Dreissena polymorpha) die Anzahl an überwinternden Wasservögeln vervierfachte. „Bei Muscheln kommt noch hinzu, dass die Schalen nach ihrem Tod im System verbleiben und damit unter Umständen auch das Substrat verändern, was wiederum weitere Arten positiv oder negativ beeinflussen kann,“ so Viehberg.
Was die Rangia cuneata betrifft, sieht Muschelexperte Vollrath Wiese zunächst keine großen Probleme. In Nordamerika, wo sich die Mexikanerin seit den 1950ern entlang der Ostküste bis zur Mündung des Hudson River verbreitet hat, sei sie bisher schließlich auch nicht unangenehm aufgefallen. „Invasive Arten müssen nicht zwingend Probleme machen“, so Wiese, „sie können durchaus mit einheimischen Arten friedlich koexistieren.“
Eine Nische für die Muschel?
Das zeigt etwa die Amerikanische Schwertmuschel (Ensis directus). 1973 wurde sie in der Nordsee nachgewiesen, 1993 in der Ostsee. Die bis zu 17 Zentimeter langen, schmalen Muscheln, die sich senkrecht in den Sand eingraben, haben offenbar eine ökologische Nische gefunden. Bei der Rangia könnte es ähnlich sein.
„Die Natur ist ohnehin ständig in Bewegung“, so Wiese, „der Mensch sorgt durch seine Mobilität nur zusätzlich für Dynamik.“ Veränderungen – wie das Auftreten der Rangia cuneata an der deutschen Küste – findet der Biologe daher zunächst äußerst spannend. Den Urlaubern am Strand dürfte es ähnlich gehen. Durch die robuste Schale eignen sich die neuen Muscheln auch hervorragend zum Basteln. Und in den Taschen gehen sie nicht so schnell kaputt, wie etwa die dünnen Hälften der Sandklaffmuschel.
Apropos: Die große, flache, meist weiße Sandklaffmuschel (Mya arenaria) ist für viele die Ostsee-Muschel schlechthin. Dabei war sie in unseren Breiten lange ausgestorben. Im 13. oder 14. Jahrhundert tauchte sie plötzlich wieder in der Ostsee auf. Was war geschehen? Die Wikinger, so wird gemunkelt, hatten sie von Nordamerika mitgebracht.
Das Muschelmuseum bei Grömitz
Haus der Natur in Cismar: geöffnet täglich von 10 bis 19 Uhr; Bäderstraße 26; 23743 Cismar; www.hausdernatur.de.
Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift DÜNENZEIT Ostsee, Ausgabe Sommer 2022. Die Zeitschrift mit Reportagen und Ausflugstipps für die Küsten von Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein gibt es zum Preis von 6,50 Euro am Kiosk oder hier online.
Auch interessant:
- Die zehn schönsten Strände der Ostsee
- Diese 3 Orte auf Rügen sind echt gruselig
- Das Geheimnis des Weststrands
- Auf die verbotene Insel – ganz legal
- Wo war Vineta?
- Warum das Meer gerade jetzt gut tut
Buchtipps
Das erste Mal entdeckten wir die Brackwasser-Trogmuschel auf unseren Recherchen für unser USEDOM-Buch in der neuen MARCO-POLO Reihe DEIN INSIDER-TRIP. Wer nicht nur am Strand auf den Boden gucken will, findet hier zahlreiche Tipps für Ausflüge, kulinarische Entdeckungen und Events mit Meerblick.
An die verschiedensten Strände der Ostsee zwischen Boltenhagen und Usedom führt unser Buch 52 kleine und große Eskapaden in Mecklenburg-Vorpommern an der Ostsee: Ab nach draußen! (DuMont Eskapaden). Für die Ostseeküste von Schleswig-Holstein empfehlen wir gern die Eskapaden unserer geschätzten Kollegin Stefanie Sohr.
(Bei Buchbestellungen hier via Amazon unterstützt Ihr Zweiküsten mit ein paar Cents, am Kaufpreis ändert sich nix.)